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Nicole Durrer Quartet

Von Nicole Durrer weiss man, dass sie eben so gerne scattet, wie sie im Liederbuch ihrer Heimat Einsiedeln blättert. Auch Deutsch hat seinen Platz im Repertoire des Quartetts. Sprache als
Herausforderung und Überraschung? Es ist nicht die einzige dieses Konzerts.

Bild: © Peter Hummel

In der Musik des Nicole Durrer Quintetts treffen Welten aufeinander, die sich sonst eher aus dem Weg gehen. Volkslied trifft auf Jazzstandard und dazwischen findet auch eine mittelalterliche Melodie mit einem Text von Martin Luther seinen Platz. Dass sich Volkslied und Jazz berühren, ist nachvollziehbar, denn beides sind musikalische Genres, welche Improvisation zulassen und auch fordern. Doch wie hat sich mittelalterliches Liedgut ins Repertoire geschlichen? «Weil uns die Lieder gefielen», erklärt Nicole. «Auch wegen der Herausforderung, denn es ist nicht ohne, diese Sprache zum Klingen zu bringen. Gerade weil man versteht, wovon der Text handelt.» Die Selbstverständlichkeit, mit der sich Nicole Durrer Melodien aneignet, ist auch hörbar im Umgang mit Volksliedern aus Einsiedeln. «Die Melodie von ‹Sihlsee› trage ich mit mir herum seit mein Vater das Lied mit dem Männerchor eingeübt hat. Jetzt wurde daraus eine Melodie für Stimme und Kontrabass.»

Gitarrist Adrian Egli ergänzt: «Es ist doch egal, ob man diese alten, zum Teil mittelalterlichen Melodien, noch bewusst kennt oder einfach in seiner DNA herumträgt. Warum nicht dazu stehen, dass sie Teil unserer Kultur sind? Zudem sind die Texte zeitlos. Wenn wir Martin Luther zitieren mit ‹Wie treiben wir den Winter aus›, dann muss man nur Winter durch Corona ersetzen und schon sind wir im Heute.» Das Stichwort ist gefallen: Corona. Was hat der Lockdown an ihrer Musik verändert? Eine klangliche Erweiterung ist bereits im Repertoire eingebaut, denn Nicole Durrer spielt jetzt auch Oboe. Für sie eine Frage der Nachhaltigkeit: «Ich spielte dieses Instrument seit meiner Kindheit bis Mitte meiner Zwanziger Jahre intensiv, vor allem im klassischen Bereich. Auch eignet es sich bestens für die jazzige Improvisation. Ja, ich habe mich wieder in mein Instrument verliebt.» Adrian seinerseits hat begonnen, sich in die Welt der Elektronik einzuleben. «Anfänglich ging es mehr um die Konstruktion von Beats. Im Moment sind wir zu Hause am Experimentieren, wie wir die Elektronik in unseren Bandsound einfügen könnten.»

Text: Jodok Kobelt

Nicole Durrer – Gesang & Jazzoboe
Adrian Egli – Gitarren
Sandro Heule – Bass
Carlo Lorenzi – Schlagzeug

www.nicoledurrer.ch

Carlo Schöb / Peter Eigenmann Quartett

Carlo Schöb und Peter Eigenmann mussten sich den Zugang zur Jazzwelt erkämpfen. Es dauerte auch Jahre, bis sie das erste gemeinsame Projekt starteten, auch ein bisschen aus einer Not heraus. Die musikalische Freundschaft hält dafür seit Jahrzehnten.

«Als mir mein Handorgellehrer ein Saxophon verkaufte, gab es in ganz St.Gallen keinen Lehrer, der mir hätte Unterricht geben können», erinnert sich Carlo Schöb. Peter Eigenmann wollte es nicht glauben, als man ihm in der Gitarrenstunde eröffnete: «Jetzt kannst du die wichtigsten drei Akkorde. Damit kannst du alles spielen.» Und wenn ich einen weiteren Akkord spielen wollte, sagte man mir: «Den brauchst du nicht.»

Normale Berufe konnten die beiden nicht begeistern. Der eine wurde zwar Lehrer, der andere kaufmännischer Angestellter, aber ihre Freiheit fanden sie in dem einen Nachmittag pro Woche, an dem sie dem Berufsalltag entfliehen und an die Jazzschule nach Bern fahren konnten.

Nach Lehr- und Wanderjahren in Skandinavien, den USA, in Bigbands und Clubformationen, kam’s zum ersten gemeinsamen Projekt. Eigenmann kommentiert das lakonisch: «1985 hatte man nicht viel Auswahl. St. Gallen ist nicht New York.» Gibt es ein Geheimnis für diese musikalische Freundschaft über Jahrzehnte? Peter Eigenmann verrät: «Es ist ja so, dass Carlo am Saxophon jeweils eine Note spielen kann, und ich an der Gitarre sechs gleichzeitig. Das führt sofort zur Standardsituation: Sax führt die Melodie, die Gitarre spielt Begleitakkorde. Und wir spielten damals im Duo. Auf die Dauer langweilig. Da hatte Carlo eine Superidee: ‹Komm, wir spielen beide nur Melodien und improvisieren sie ineinander›.»

Den beiden zuzuhören ist eine Zeitreise durch einige Jahrzehnte Jazz-Standards. Nur, was ist überhaupt ein «Standard»? Peter Eigenmann definiert: «Das sind Nummern, die oft aus Musicals oder Filmen stammen. Melodien, welche die Leute im Ohr haben. Es gibt auch reine Jazzmelodien, die Standards wurden. Aber die werden normalerweise als «Originals» bezeichnet». Carlo Schöb nimmt den Faden auf: «Es geht um den Groove und die Möglichkeit, über diese Melodien zu improvisieren. Mit Standards konnte man die Leute ins Konzert, in die Clubs locken. Mit Originals eher weniger.» Soviel sei verraten: Im Konzert des Carlo Schöb / Peter Eigenmann Quartett gibt’s sowohl Standards wie Originals.

Text: Jodok Kobelt

Peter Eigenmann – Gitarre
Carlo Schöb – Saxophon
Dominic Egli – Schlagzeug
Henning Gailing – Bass

www.petereigenmann.com

Rosset Meyer Geiger

Was Rosset Meyer Geiger machen, kann man nur wenn man schon so lange zusammenspielt: Seit 22 Jahren gibt es dieses Trio mittlerweile, und seit drei Jahren konzertiert (und probt) es nur noch improvisiert. Für die drei Musiker das erfolgreiche Rezept, um von alten Pfaden wegzukommen.

«Wir sind quasi eine Risikogruppe», erklärt Jan Geiger mit zeitaktueller Anspielung. «Wir wissen bei keinem Konzert, was herauskommt; meistens klappt’s recht gut, manchmal weniger. Super cool ist es, wenn jeder es schafft, seine Inspiration beizusteuern.» Wenn einer sich zu wenig oder zu viel einbringe, könne es schnell ins Destruktive kippen. Auch funktioniere es nicht, vermeintlich coole Takes in ein nächstes Konzert einzubauen – eine einmalige Magie lasse sich nicht nochmals herzaubern… Wie aber kann Improvisation denn geprobt werden – ist das kein Widerspruch? «Es gelingt, wenn wir jedes Mal wie eine neue Band frisch anfangen. Voraussetzung ist allerdings, dass keiner alte Muster oder Alltagssorgen im Kopf rumträgt», so Josquin Rosset. Genau dann fängt das traumwandlerische Zusammenspiel an zu tragen.

Und wie reagiert denn das angestammte Publikum? «Nun, wir hatten das Glück, dass wir gleich mit der ersten Platte den Nerv einer audiophilen Hörerschaft fanden», so Gabriel Meyer. Und nach drei Studioalben folgte als vorläufige Krönung die exzellente Einspielung «Live at Beethoven-Haus in Bonn»; insgesamt wurden stattliche rund 7000 Platten verkauft. Diese Klientel musste sich gewiss umgewöhnen. Doch das Konzertpublikum reagiere sogar enthusiastischer, so Rosset. Und das Trio hilft ja auch mit einem kleinen Kunstgriff nach: Es nennt seinen freien Jazz nicht etwa abschreckend Free Jazz sondern freie Improvisation. Sehr zu recht, meint Geiger: «Wir lieben ja durchaus Melodien – wir mögen einfach keine Schubladisierung. Unsere Musik soll frisch und frei sein – no risk, no fun.»

Rosset Meyer Geiger spielen ohne Zweifel in einer internationalen Liga – lockt denn da nicht vermehrt der Sprung ins Ausland, nachdem es vor Jahren mit Tourneen in Deutschland und Japan schon mal einen verheissungsvollen Start gab? Für viele ausländische Booker sind Rosset Meyer Geiger offensichtlich noch zu sehr ‹Newcomer› oder noch zu unbekannt. So konzentrieren sich die Musiker
momentan auf weniger Konzerte in – hauptsächlich nationalen – Lokalen. Vielleicht braucht es einfach noch ein wenig Zeit und weitere Auftritte im Ausland, um irgendwann mal auch international breit wahrgenommen zu werden.

Text: Peter Hummel

Josquin Rosset – Piano
Gabriel Meyer – Bass
Jan Geiger – Schlagzeug

www.rossetmeyergeiger.com

Michael Neff Group

Lange galt das Appenzellerland als Jazzbrache. Das hat sich geändert seit Musiker wie Reto Suhner und Jaronas Höhener oder die Sängerin Karin Streule aktiver Teil der Schweizer Jazzszene sind. Und nicht zu überhören: Trompeter, Flügelhornist, Büchel-Spieler und Komponist Michael Neff.

Michael Neff ist ein zurückhaltender Mensch. Nur zögernd spricht er von sich. Dabei ist seine bisherige musikalische Laufbahn eindrücklich und vielfältig. Geboren 1975 auf einem Bauernhof in Bühler spielt er seit seiner Jugendzeit Trompete, zuerst in einer Brassband und in einer Funk-Gruppe. Dann entdeckte er den Jazz, absolvierte die St.Galler Jazzschule und ging 2000 für ein halbes Jahr nach New York, wo er sich bei den renommierten Trompetern Cecil Bridgewater und Eddie Henderson fortbildete. Acht Jahre später ermöglichte ihm die Ausserrhodische Kulturstiftung ein Kompositionssemester beim Saxofonisten und Komponisten Andy Middleton am Konservatorium Wien.

Musikalisch bewegt sich Neff mühelos in verschiedenen Welten, spannt den Bogen von Jazz in verschiedenen Stilvarianten zu Klassischer Musik und zu Appenzeller Volksmusik. Sein Hauptanliegen, den Jazz, setzt er seit dem Jahr 2000 mit der «Michael Neff Group» um. Ein aussergewöhnliches Duo bildet er mit dem australischen Ausnahmepianisten Peter Waters. Im Kollektivensemble «Bodan Art Orchestra» ist seine Trompete eine gewichtige Stimme, und mit dem Drummer Rolf Caflisch ist er oft bei «weekly jazz» in Chur zu hören. Jazz und zeitgenössische klassische Musik verbindet Neff mit eigenen Kompositionen unter dem Titel «Ballads and more…» mit dem Projekt «String Quartet Meets Jazz Quartet». Jazzseitig spielt der Pianist Markus Bischof, auf der Klassikseite die Geigerin Elena Neff Zhunke mit. Den Bogen zur Volksmusik schlägt er etwa mit der «Appenzeller Jazzkapelle», die ganz alte und neuere Appenzeller Volksmusik auf innovative Art und Weise spielt.
Eine besondere musikalische Freundschaft pflegt Neff mit dem Bündner Gitarristen Andi Schnoz. Zusammen haben sie die LP «Soft Breeze» aufgenommen, die das Duo coronabedingt erst ein Jahr nach dem Erscheinen live vorstellen kann. Seine Vielseitigkeit zeigt sich nicht zuletzt mit dem Album «Semper reformanda», aufgenommen zum Lutherjahr 2018, mit der «Michael Neff Group».

Text: Richard Butz

Michael Neff – Trompete
Andi Schnoz – Gitarren
Rainer Hagmann – Geige
Christoph Sprenger – Bass
Georgios Mikirozis – Perkussion
Erich Tiefenthaler – Flöte
Mario Söldi – Schlagzeug

www.michael-neff.ch

SchnozJennyCaflisch feat. Gabriela Krapf

Eine Einladung, ein Gig, Aufregung, ein Projekt, und in der Ferne lächelt Björk. So ist es nicht passiert, aber fast. Hier die Geschichte, wie ein abenteuerlustiges Trio und eine Sängerin
mit Songs von Björk im Repertoire, zusammenkamen – und überzeugen.


Im «Marsöl» in Chur gibt’s am Donnerstag Jazz. Einer der Initianten dieser Musikinitiative, die nun auch schon im zweiten Jahrzehnt läuft, ist Rolf Caflisch, Schlagzeuger im Trio SchnozJennyCaflisch. Am liebsten spielen die drei mit einem Gast, und noch lieber mit einem Gast und einem fremden Repertoire. Also fragten sie ganz unverbindlich die Sängerin Gabriela Krapf an, ob sie a) für einen Gastauftritt zu haben sei, und b) vielleicht auch ein paar Songs mitbringen könne. Machte sie, und steuerte unter anderem zwei Songs der isländischen Pop-Ikone Björk bei. «Da ist ein riesiger Funken gesprungen», erinnert sich Gabriela Krapf. «Nach dem Gig konnten wir es kaum fassen, was da gerade passiert war. Noch bevor wir für eine Zugabe wieder rausgingen, war klar: Wir machen ein Björk-Programm.»

Gabriela Krapf ist nicht nur Fan von Björk, sondern auch Kennerin ihres Repertoires. Für das Jazztrio waren die Popsongs Neuland. Was sich jedoch an Komplexität hinter dem Etikett «Popsong» versteckte, war selbst für die Jazzer eine Herausforderung. Wobei Gabriela abwinkt: «Die drei sind so experimentierfreudig und ständig auf der Suche nach musikalischen Herausforderungen – das musste funktionieren.» Was die drei Musiker und die Musikerin verbindet, sind fehlende Blockaden oder Vorbehalte gegenüber anderen Musikgenres. Gabriela sagt von sich: «Ich kann mich nicht erinnern, mich irgendwann ausschliesslich für einen einzigen Musikstil interessiert zu haben.» Marc meint: «Für mich ist Jazz eine Wurzel, da komme ich her. Es ist mehr Haltung als Musikrichtung. Sie verlangt absolute Offenheit, sich auf neue Dinge einzulassen.» Rolf ergänzt: «Dank dem Jazz habe ich gelernt damit umzugehen, dass mir so viele verschiedene Musiken gefallen.» Auch wenn das «Björk»-Projekt bald ausläuft, bedeutet das nicht das Ende der Zusammenarbeit. Marc sagt: «Es geht uns nie nur um das jeweilige Projekt, sondern um die Beziehung, die Dynamik, die sich zwischen den Musikern und Musikerinnen entwickelt. Die ist ja nicht beendet. Wir haben eine gemeinsame Sprache gefunden, und wir könnten die gut weiter entwickeln.»

Text: Jodok Kobelt

Andi Schnoz – Gitarren
Marc Jenny – Bass
Rolf Caflisch – Schlagzeug
Gabriela Krapf – Gesang

www.gabrielakrapf.ch

Joana Elena Latin Jazz Project

Joana Elena ist Tango, Klassik, Latin, Jazz, Funk… Doch die Appenzellerin ist, lebt und spielt nicht nur World Music, sie ist auch eine wahre Kosmopolitin: Nach Eggersriet, Rehetobel und New York lebt sie nun in Berlin und tritt mit ihren internationalen Bands überall auf.

Joana Obieta, wie sie bürgerlich heisst, hat die Musik in den Genen: Vater Kontrabassist, Mutter Cembalistin. Klar, dass sie ihr Talent schon früh auf diversen Instrumenten übt: Blockflöte, Kontrabass und Saxofon. Auf ihr eigentliches «Instrument», den Gesang, kommt sie ausgerechnet durch «Deutschland sucht den Superstar». Dank dem oft im Theater spielenden Vater will sie zwar eher Musicalsängerin werden. Mehrere Kubareisen bringen sie aber nochmals auf einen Rhythmuswechsel.

Den Traum, die Musik wirklich zum Beruf zu machen, eröffnet die Aufnahme ans Berklee College of Music. Besonders gefällt ihr in Boston, dass die Musik «nicht in so stiere Genres eingeteilt» werde und dass sich unter den Studenten ein einmaliges Netzwerk aufbauen lässt. Kunststück, dass Joana an diesem renommierten College auch Mitglieder ihrer aktuellen Band Dejàn findet: Den aserbaidschanischen/ukrainischen Bassisten Han Beyli, den japanischen Perkussionisten Kan Yanabe und den kubanischen Pianisten und Komponisten Aníbal Cruz; der kubanische Schlagzeuger Keisel Jimenez ist da bereits ihr Freund. Dejàn soll eine «Soulfamilie des World Jazz» sein: Die ethnischen Rhythmen der Gruppe, die starken lateinamerikanischen Wurzeln und die Improvisation aus dem Osten nehmen das Publikum mit auf eine musikalische Weltreise.

Pech, dass Corona die Band erst mal trennt und Auftritte verhindert. Doch Unvorgesehenes bietet auch Chancen: Für das jazzfenster.sg kann Joana Elena eine hochkarätige Ad-hoc-Formation mit Weltklasse-Musikern zusammenstellen – mit dem in Liechtenstein lebenden Trompeter Amik Guerra und dem in Paris «gestrandeten» Pianisten Aismar Simon Carillo sowie dem famosen Ostschweizer Bassisten David Maeder und ihrem inzwischen grammygekürten Perkussionisten/Schlagzeuger Keisel als Rhythm Section. Nach dem furiosen Auftritt in Rorschach ist Joana klar, dass diese exzellente Combo kein one-day wonder bleiben, sondern mindestens interimsweise fortgesetzt werden soll. Inzwischen wirkt sie in Berlin im Musikteam von TikTok mit, welches als Schnittstelle zwischen KünstlerIinnen und der Plattform dient.

Text: Peter Hummel

Joana Elena – Gesang
Aismar Simón Carrillo – Piano
Amik Guerra – Trompete
David Mäder – Bass
Keisel Jiménez – Schlagzeug/Perkussion

www.joanaelena.com

4tetto Mani Nude

Sie kamen wirklich mit leeren Händen, aber mit einem grossen Fundus an musikalischen Ideen. Sie führen auch keine Setliste, kein mögliches Repertoire. Denn es ist die Grundidee von Mani Nude, bei jedem Konzert, in einem musikalischen Dialog, Neues entstehen zu lassen.

Es klingt wie ein Paradox, ist aber die Grundvoraussetzung, damit die Musik der Mani Nude entstehen kann: Alle Musiker müssen gute Zuhörer sein. Ganz egal ob sie nun im 4tetto oder im 5tetto oder sonst einer Formation auftreten. Schlagzeuger Carlo Lorenzi erklärt: «Unser Repertoire heisst ‹Fundus›. Du kennst eine Million Lieder, ich kenne eine Million Lieder, im Jazzumfeld gibt es hunderte von Standards, und die haben wir Musiker alle schon mal gespielt, oder zumindest geübt. So entsteht ein Fundus an musikalischen Elementen. Der Rest entwickelt sich wie ein Gespräch: Ich sage etwas, dann reagierst du darauf und lenkst vielleicht in eine neue Richtung, bringst ein neues Argument. Das Piano spricht mit dem Bass, der lenkt das Gespräch ab, bringt eine neue Idee und reicht die dem Schlagzeug weiter. Dieses findet: In Ordnung, damit kann ich was anfangen, und fragt die Trompete: Na, wäre das nicht was für dich, für einen kleinen Ausflug? Diese Art Musik zu machen lieben und pflegen wir.»

Es ist tatsächlich so, dass im Konzert immer wieder eine Phrase, ein Beat oder eine Melodie auftaucht, bei der sich sofort die eigene musikalische Erinnerung einschaltet: Woher stammt das? Aus diesem Song? Ach, wie heisst der schon wieder? Oder: Das ist doch genau der Tune von … Man muss als Zuhörer:in schon aufpassen, dass man sich von diesen Anspielungen nicht allzu sehr ablenken lässt, sonst verpasst man nämlich den nächsten melodiösen Schmunzler, oder eine überraschende Groove-Entwicklung. Gut zuhören und dranbleiben ist also nicht nur Grundvoraussetzung für die Musiker, sondern auch für Zuhörer und Konzertgängerinnen. Denn auch sie, ja der Konzertraum selber, sind Teil des Konzepts. «Wir kommen mit leeren Händen, nehmen die Energien des Publikums und des Raumes auf, und schauen, wie wir uns darin bewegen können.» Spielt es eine Rolle, wenn ein Mitmusiker mal abgelenkt ist, müde, uninspiriert, nicht gut drauf? «Das merkt man schon. Aber dann kann man ja auch aufhören zu spielen, hört einfach mal zu, wartet auf die nächste Inspiration. Wie im richtigen Leben braucht es in jedem Dialog zwischendurch auch Pausen.»

Wenn nichts vorgeschrieben ist, alles improvisiert, dann könnte man leicht in der Fülle von Ideen verloren gehen. Aber Carlo Lorenzi schüttelt den Kopf: «Es ist wie bei den modernen Freestyle Sportarten: Du übst lange, bis du die Tricks auf sicher draufhast. Wenn es dann gut läuft, hebst du ab, durchbrichst das Schema. Du folgst keinem Plan, und doch bleibst du im Flow. Nein, du kannst dich nicht wirklich verlieren – ausser, du bist nicht bei der Sache.»

Text: Jodok Kobelt

Carlo Lorenzi – Schlagzeug
Florian King – Bass
Josquin Rosset – Piano
Herbert Walser-Breuss – Trompete

www.carlolorenzi.ch

Urs C. eigenmanns quintorchestra+

Er ist ein Schweizer Jazz-Urgestein: Urs C. Eigenmann, stets unterwegs mit vielen musikalischen Konzepten. Nach dem Auftritt mit dem QuintOrchestra+ bei jazzfenster.sg plant er für das kommende Jahr ein Projekt mit der portugiesischen Jazz- und Fadosängerin Melanie Russo.

Urs C. Eigenmann, Pianist und Komponist, trat 1968 mit der Formation Off&Out ins Schweizer Jazzleben ein. 53 Jahre später besteht diese Band immer noch, gewechselt haben einzig die Besetzungen – die Liste der Musiker:innen ist lang und eindrücklich –, geblieben ist die musikalische Ausrichtung: Soul-Jazz und Soul der Sechzigerjahre sowie bluesige und funkige Eigenkompositionen des Leaders. Gleich geblieben ist auch Eigenmanns musikalische Philosophie. Er will mit seiner Musik zu den Leuten gehen und sie auf überraschende musikalische Reisen einladen. «Kunst ist dazu da, um den Staub des Alltags von der Seele zu waschen», zitiert er Pablo Picasso. Diese Devise begleitet ihn bei all seinen Projekten.

Mit dem sechsköpfigen «QuintOrchestra+» – mit dabei ist der Sänger Thomas «Tom Tom» Straumann – hat Eigenmann einen schwungvollen Beitrag zum jazzfenster.sg abgeliefert. Die Gruppe Passona mit der Sängerin Leandra Wiesli bietet soul- und bluesgefärbte Musik mit Texten von Wiesli – mit ihr tritt er auch im Duo auf –, Cornelia Buder, Nathalie Maertens und Malcolm Green. «Jazz mit Bodenhaftung», kündigt er mit dem Quartett Drive On an, und für das kommende Jahr plant er Auftritte von Off&Out mit der portugiesischen Sängerin Melanie Russo. Sie wird das Programm mit jazzig gefärbtem Fado, dem Blues Portugals, anreichern.

Musik, Texte und Tanz miteinander zu verbinden, ist ein grosses Anliegen Eigenmanns, das er in mehreren Projekten umgesetzt hat: mit «Unzeit Gemäss», bei der «Open Opera» und mit «Alli zäme mit dem Urs», bei dem 170 Personen aus verschiedensten Sparten mitwirkten. Die Diskografie Eigenmanns umfasst zehn Einspielungen, darunter das hochgelobte «A Habsburg Night For Eddie Harris» und das Solo-Album «Kursus», gemäss ihm ein Selbstversuch, der ihn an seine Grenzen geführt habe.

Kultur ist Eigenmann ein Herzensanliegen. Kritisch verfolgt er die Kulturpolitik und meldet sich unerschrocken, wenn er aus seiner Sicht Fehlentwicklungen feststellt. Trotz einigen Enttäuschungen überwiegen die Erfolge, die Schaffenslust ist gross, und so ist von ihm noch einiges zu erwarten.

Text: Richard Butz

Urs C. Eigenmann – Piano, Keyboards
TomTom Straumann – Gesang
Markus Bittmann – Saxofon
Alex Steiner – Gitarren
Marc Ray Oxendine – Bass
Andy Leumann – Schlagzeug

www.quintorchestra.ch